Veranstaltung „Barrierefreie Arztpraxen einfordern“

Veröffentlicht am: 10.10.2023 | Neuigkeiten | Keine Kommentare »


Am 28. September diskutierten rund dreißig Engagierte aus Gremien mit Patientenvertretung, der Selbsthilfe und anderen Patientenorganisationen auf einer digitalen Veranstaltung der Koordinierungs- und Vernetzungsstelle der Patientenbeteiligung NRW und des Koordinierungsausschusses NRW über die Möglichkeiten, die Barrierefreiheit von Arztpraxen zu stärken.

Lisa Jacobi (LAG Selbsthilfe NRW) und Carsten Ohm (VdK NRW) skizzierten zunächst in ihrem Input die rechtlichen Grundlagen zur Barrierefreiheit. Insbesondere die UN-Behindertenrechtskonvention fixiert die obligatorische Sicherstellung der Barrierefreiheit in medizinischen Einrichtungen. Das fünfte Sozialgesetzbuch greift die Konvention in Teilen auf, indem beispielsweise Sozialleistungen in barrierefreien Räumen ausgeführt werden müssen. Nicht zufriedenstellend ist jedoch, dass Barrierefreiheit häufig nicht vollumfänglich betrachtet wird. Ein Kriterienkatalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung betrachtet nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Barrieren, wobei eine Novellierung der entsprechenden Richtlinie 2024 in Kraft treten soll, die wesentlich differenzierter ausfällt. Problematisch bleibt, dass die freiwillige Selbstauskunft von Arztpraxen zu deren Barrierefreiheit von vielen Praxen nicht vorgenommen wird. Bei der Selbstauskunft besteht zudem das Risiko, dass die Praxen die Barrierefreiheit nicht realistisch einschätzen. So sind de facto viele Praxen nicht ausreichen barrierefrei.

Dr. Monika Rosenbaum (Netzwerkbüro Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung) führte die drastischen Konsequenzen aus mangelhafter Barrierefreiheit in der gynäkologischen Versorgung vor Augen. Aufgrund der nicht gegebenen Barrierefreiheit vieler gynäkologischer Praxen haben viele Frauen mit Behinderungen noch nie einen Frauenarzt aufsuchen können. Eine große Hürde sind die gynäkologischen Stühle, für die es in den meisten Praxen kein barrierefreies Pendant für Rollstuhlfahrerinnen gibt. Dabei hat jedes Mädchen und jede Frau ein Recht auf Aufklärung und frauenärztliche Versorgung. Dies beinhaltet unter anderem das Recht auf Vorsorge, Beratung, Verhütung und Familienplanung.

Kerstin Hagemann (Patienten-Initiative e.V.) stellte anschließend eine mögliche Vorgehensweise zur standardisierten Erfassung der Merkmale zur Barrierefreiheit von Arztpraxen vor. Im Rahmen des zu Beginn von der AOK finanzierten Projekts „Barrierefrei. Wir sind dabei“ entwickelte die Patienten-Initiative einen umfassenden Kriterienkatalog zu den Bedarfen von Menschen mit Behinderung in der ambulanten Versorgung. Der Katalog wurde dann mit den Verbänden der Selbsthilfe und Selbstvertretung abgestimmt. Daraus wurde im Anschluss eine Checkliste konzipiert, mit der Arztpraxen besucht und die konkreten Bedingungen der Barrierefreiheit erfasst wurden. Das war keine Bewertung, sondern eine detaillierte Bestandsaufnahme, sodass Personen mit Behinderung die für sie passende Praxis finden konnten. Die erfassten Informationen sind in einer WebApp veröffentlicht worden. Die Arztpraxen erhielten während des Besuchs und mit der Zusammenfassung der Ergebnisse Hinweise für Verbesserungsmaßnahmen. Die Akquise von Praxen war mühsam und zeitintensiv. Ärzt*innen erklärten, dass sie kein Interesse an der Versorgung von Patient*innen mit Behinderung hätten. Andere taten das engagiert und wollten weitere Aufmerksamkeit vermeiden, um nicht weitere Patient*innen „anzulocken“. Von der Kooperation mit der KV Hamburg ab 2021 versprach sich die Patienten-Initiative eine höhere Beteiligung, diese Erwartung wurde nicht erfüllt. Mangels einer ausreichenden Unterstützung wurde das Projekt zum April 2023 beendet. Bis dahin waren rund 260 Praxen der gelisteten 4000 Arztpraxen in Hamburg besucht worden, nicht alle Ärzt*innen stimmten nachher der Veröffentlichung in unserer App zu. Das Projekt hat aufgezeigt, dass eine umfassende Erfassung der Merkmale zur Barrierefreiheit bei der Bereitstellung entsprechender Ressourcen möglich ist. Die Veröffentlichung der Zugangsbedingungen für Arztpraxen muss verpflichtend werden, die Angaben sind dabei auf Vollständigkeit und Zuverlässigkeit zu prüfen.

Im zweiten Teil der Veranstaltung wurden mögliche Handlungsoptionen der Engagierten aus den Selbsthilfe- und Patientenorganisationen diskutiert, mit denen die Barrierefreiheit eingefordert werden kann. Jan Kaßner (Koordinierungs- und Vernetzungsstelle Patientenbeteiligung NRW) ging hierfür zunächst auf die Möglichkeiten der Patientenvertretung in den Gremien der Bedarfsplanung ein. Laut Bedarfsplanungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses sollte Standard sein, die Barrierefreiheit sowohl in der Darstellung der Versorgungslandschaft in den Bedarfsplänen als auch bei der konkreten Zulassung von Vertragsärzt*innen zu berücksichtigen. De facto ist dies jedoch nicht der Fall, wie die Patientenvertreter*innen immer wieder feststellen müssen. Mangels Stimmrecht in den Gremien sowie ungenauen, lückenhaften rechtlichen Rahmenbedingungen ist es daher schwierig, die Barrierefreiheit einzufordern. Dennoch gibt es einige Optionen: So kann beispielsweise bei der Erstellung der Bedarfspläne in den Landesausschüssen ein zusätzlicher Versorgungsbedarf mangels ausreichend barrierefreier Praxen angesprochen werden.

Abschließend diskutierten die Teilnehmenden notwendige nächste Schritte auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit von Arztpraxen:

  • Gespräche mit den Ärzt*innen vor Ort tragen dazu bei, diese für die Barrierefreiheit zu sensibilisieren. Gleichzeitig bedarf es entsprechender Schulungsangebote für die Ärzt*innen.
  • Die Verantwortung für Veränderungen kann nicht bei den einzelnen Menschen mit Behinderungen liegen.
  • Finanzielle Anreize für die Ärzt*innen sind wichtig, um diese zum Ausbau der Barrierefreiheit zu motivieren.
  • Notwendig ist eine verpflichtende Selbstauskunft der Ärzt*innen. Die bisherige freiwillige Auskunft der Ärzt*innen reicht nicht aus. Gegebenenfalls müssen die Ärzt*innen sanktioniert werden.
  • Befürwortet werden von den Teilnehmenden Ausgleichsabgaben von Ärzt*innen, wenn diese nicht genügend Menschen mit Behinderungen aufnehmen.
  • Insbesondere dort, wo Unterversorgung droht, müssen die bestehenden Arztpraxen barrierefrei gestaltet sein, um allen Menschen im unterversorgten Planungsbereich den Zugang zur Versorgung sicherzustellen.
  • Die Öffentlichkeit muss stärker für das Thema sensibilisiert werden. Hierfür müssen konkrete Erlebnisberichte von Betroffenen gesammelt und veröffentlicht werden.
  • Es bedarf klarer rechtlicher Vorgaben und einer konsequenten Umsetzung aller Verantwortlichen, insbesondere der Kassenärztlichen Vereinigung und der Betreiber*innen von Arztpraxen. Trotz der rechtlichen Gemengelage muss festgehalten werden, dass für Menschen mit Behinderung die vertragsärztliche Versorgung nicht im gleichen Maße sichergestellt ist wie für nicht-behinderte Menschen und Deutschland als Vertragsstaat und die mit dem Sicherstellungsauftrag betrauten Kassenärztlichen Vereinigungen damit gegen geltendes Recht verstoßen. Die Patientenvertretung benötigt für die notwendigen Änderungen bessere Einflusskanäle: Auf Bundesebene im Rahmen der Gesetzgebung, und auf Landes- und Regionalebene bei der konkreten Gestaltung der Bedarfsplanung.

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